Thorsten Rodiek

Ambivalenzen

aus: Helle Jetzig, Works 1999-2004, Katalog Galerie von Braunbehrens, München 2004

Betrachtet man die Bilder Helle Jetzigs, so fühlt man sich unmittelbar an die filmischen Werke zweier berühmter Regisseure erinnert, die bezeichnenderweise als Komiker die Hektik, den Wahn und das Chaos des modernen, beschleunigten Lebens, den Kampf des Menschen gegen die ihm fremden, zugleich aber von ihm geschaffenen Maschinen einer harschen Kritik unterzogen: Charlie Chaplin und Jacques Tati. Ersterer schuf mit „Modern Times“ von 1936 eine Parabel auf die aus den Angeln geratene Welt der Zwanziger Jahre. Tati nahm in seinem Film „Playtime“ von 1967 die städtebaulichen Veränderungen der Fünfziger und Sechziger Jahre aufs Korn, indem er die künftigen architektonischen Monstrositäten des damals noch gar nicht realisierten Pariser Hochhausviertels „La Défense“ thematisch in den Mittelpunkt rückte.

Im Gegensatz zu den beiden Regisseuren, die mit künstlichen Kulissen arbeiteten, reist Helle Jetzig mit dem Fotoapparat in reale Städte wie New York, San Francisco, Taipeh, Berlin oder andere Millionenmoloche, um dort, stellvertretend für andere Orte unserer Gegenwart, die Essenz einer Entwicklung festzuhalten bzw. einzufangen, welche unaufhaltsam zu sein scheint und auch unsere unmittelbare Umgebung betrifft.

Auf diese Weise ist ein umfangreiches Fotoarchiv entstanden, das die eigentliche Grundlage seiner großformatigen Fotogemälde bildet.
Bei den ohne Ausnahme in Schwarzweiß festgehaltenen Motiven handelt es sich oft um Ausschnitte mit geringem Wiedererkennungseffekt. Selten gelingt es dem Betrachter, ein Gebäude wie das Empire-State-Building oder eine konkrete Straße zu identifizieren. Man begegnet Ausschnitten als pars pro toto der von Dynamik und steten Veränderungen dominierten Großstädte. Im Grunde sind es zumeist urbane Nicht-Orte oder städtische Wüsten, auf die Helle Jetzig seine Motivwahl konzentriert. Auffallend ist dabei, dass der Künstler ganz bewusst auf übliche Postkartenausschnitte verzichtet.
Im Gegenteil, er rückt die für Touristen uninteressanten, banalen und nicht-ästhetischen Allerweltsmotive, das Zufällige und Pathosfreie in den Fokus seines bildnerischen Schaffens.

Durch die Kombination und Überblendung unterschiedlicher Großstadtmotive erzeugt er nicht im Einzelnen zu identifizierende, visuelle Prototypen für den Begriff „Stadt“ oder „Metropole“.
Seinen zumeist großformatigen Bildern, die mitunter auch als Diptychen ausgeführt werden, begegnet der Betrachter zunächst als einer großen Einheit. Erst nach und nach stellt er fest, dass sich die stets farblich gefassten Bilder aus zwei oder mehreren fotografischen Vorlagen zusammensetzen ohne dabei die Übergänge preiszugeben. Die Motivvorlagen werden dabei miteinander derart verknüpft, dass die Grenzen der einzelnen Fotos verschwinden und das gesamte Bild als eine in sich stimmige Einheit zur Wirkung kommt.
Besonders deutlich wird diese vom Künstler eigens entwickelte Überblendtechnik in ihrer Wirkung am Beispiel der 2003 entstandenen Fotogemälde „Marks B 19“ und „Marks H 1″. In beiden Bildern begegnen wir im oberen Teil dem Chrysler-Building mit den dieses bekannte Gebäude umgebenden Hochhäusern. Selbst das abgeschnittene Einbahnstraßenschild und ein Teil der Ampelanlage sind identisch. Im unteren Teil jedoch unterscheiden sich die beiden Arbeiten durch Motiv, Blickwinkel, Farbigkeit und Stimmung erheblich voneinander. Dominieren im ersten Bild Blautöne und verleihen dadurch dem Werk einen eher melancholischen Zug, ist die Atmosphäre durch die kräftigen Rot- und Pinktöne im zweiten Gemälde vorwiegend dynamisch-optimistisch. Die für Jetzigs Bilder so charakteristischen „Marks“ unterstreichen diese Akzente entsprechend, indem ein dreimal aufgedrucktes Trinkglas mit beigeordneten Buchstaben in Pink an die „blue hour“ und das vierfach aufgetragene Motiv einer Uhr an das Verfließen der Zeit oder die rush hour, bzw. an die Dynamik der Stadt erinnert, „die niemals schläft“.
Was der erste Blick nicht verrät, aber bei näherer Betrachtung deutlich wird, ist die Tatsache, dass es sich bei allen Arbeiten Helle Jetzigs immer um Bilder eines Malers und nicht um die eines Fotografen handelt, auch dann, wenn die Fotografie vermeintlich dominiert. Die Fotos sind letztlich immer nur die Grundlage, von der aus der Künstler die Lasuren in verschiedenen Farben und in zahlreichen übereinander liegenden Schichten frei aufträgt. Durch diese rein malerische Technik entstehen an den Stellen, an der unterschiedliche Farbtöne übereinanderlieben wiederum neue Farbtöne: ein Gelb und ein Blau erzeugen Grün oder ein Blau und ein Rot erzeugen Violett.
Nach dem Auftragen der einzelnen Farbschichten und vor dem Auftragen einer alles abschließenden Lackschicht werden die „Marks“ oder „Zeichen“ als farbige Siebdrucke aufgetragen. Diese dienen sowohl als kompositionelle Ordnungselemente als auch als Bedeutungsträger. Sie werden mal als positive, aber auch umgekehrt als negative Formen verwendet (Marks B 20, People (Vertikal)10, Marks H 1). Auch diesen Siebdruckmarkierungen liegen Fotografien Jetzigs zugrunde.

Die besondere Qualität dieser Arbeiten beruht neben anderem auf dieser schichtweisen Stufung und Aufbringung der einzelnen Ebenen, wie Fotografien, zahlreiche farbigen Lasuren, die „Marks“ und die – im wahrsten Sinne des Wortes – abschließenden glänzenden oder matten Lackschichten. Hierdurch evoziert Jetzig eine starke Tiefenräumlichkeit und einen überwältigenden Bildsog.

Das Ganze erfährt seine zusätzliche Steigerung durch die Objekthaftigkeit einer jeden Arbeit. Die ohne Ausnahme ungerahmten Bilder scheinen durch die Tiefe ihrer Seitenränder vor der Wand zu schweben. Das wird in den Katalogabbildungen zumeist nicht erkennbar. Sie werden gegenüber dem Umfeld der Räume zu autonomen Entitäten, zu Objekten, deren Faszination man sich schwerlich entziehen kann.
Diese besondere äußere Form, die bewusst als Artefaktum daherkommt, und der Inhalt der Arbeiten selbst bilden eine unzertrennliche und überzeugende Einheit. Sie offenbart zugleich aber auch ihren ambivalenten Charakter, der in mehrerlei Hinsicht zum Tragen kommt und der eigentliche Grund dafür ist, dass diese Bilder über ein hohes inhaltliches und ästhetisches Spannungspotential verfügen.

Der harte Lackfirnis, der die gesamte Oberfläche glatt und wie eine Art Glasscheibe uneindringlich überspannt, gibt dem Ganzen einen hermetischen Zug. Zugleich aber vermag der Blick des Betrachters tief in die Bildwelt einzudringen. Der realistischen Fotografie steht die freie und abstrakte Malweise gegenüber. Der vermeintliche Realismus der Fotos entpuppt sich als falsch oder irrtümlich, da das gesamte Bild nur aus Fotofragmenten besteht, die sich durch die Überblendung ihrer Ränder als einheitlicher Raum gerieren, es aber de facto nicht sind. Es zeigt sich sowohl im jeweils Abgebildeten, als auch in der Art der Zusammensetzung der Fragmente ein völlig artifizieller Charakterzug, der die alte Frage nach der Realität aufwirft. Die völlig unnaturalistische Farbigkeit unterstreicht dieses zusätzlich. Die Objekthaftigkeit der ungerahmten Bildkästen betont einerseits das Künstliche, negiert andererseits aber durch die Oberflächenstruktur zugleich auch die Tatsache, dass es sich bei jedem Bild um eine Produkt der Malerei und nicht um eines der Fotografie handelt.

Auf diese Weise erzeugt Helle Jetzig ein Spannungsgefüge der Ambivalenz, das zwischen Realismus und Abstraktion, zwischen Malerei und Fotografie und zwischen Handfertigkeit in der Machart und höchster maschineller Perfektion in seinem Finish stetig hin- und herpendelt.

Auch wenn der Künstler nicht die Absicht verspürt, mittels seiner Werke eine bestimmte Denkrichtung oder Interpretation vorzugeben, da er, wie viele seiner Kollegen, der Auffassung ist, dass sich ein Kunstwerk erst im Betrachter vollende, so lassen sich in seinen Fotogemälden doch inhaltliche Schwerpunkte ausmachen. Mitunter werden in seinen fragmentierten urbanen Welten sogar ironische Brechungen sichtbar.

In „Marks F4“ erkennt man in der aus Motorrollern und Blechöfen bestehenden Kulisse ein Ladenschild mit der Schrift „Just Home“. Der Gegensatz zwischen den hässlichen metallenen Artefakten und dem Inhalt dieser Ladenbezeichnung könnte kaum größer sein. Interessanterweise bilden bei den zweimal als Markierungen ausgeführten Siebdrucken ein chinesisches Wort und das Wortfragment „URANT“ die Mittelachse des Bildes. Offenbar stammt das Wortfragment vom Begriff „Restaurant“. Das im übrigen Wort „Rest“ implizierte inhaltliche Ausruhen, bzw. Innehalten ist verschwunden. Dieses ist sicherlich kein inhaltsloses Fehlen.

Das Diptychon „Falschwelt C1“ von 1999 zeigt verschiedene Motive aus Berlin. Darunter befinden sich zwei Doppelfiguren von Karl Friedrich Schinkels Berliner Schlossbrücke. Die hier gezeigte erhabene Welt griechischer Götter und Helden wird durch vier im Hintergrund sichtbar werdende Baukräne und die dreifach auf einem Schild sichtbar werdende Inschrift „Herstellung in eigener Werkstatt“ konterkariert, bzw. ironisch in Frage gestellt. Hierzu tragen im übrigen nicht wenig auch der Berliner Bär und die beiden Abbildungen des Französischen Doms, bzw. der Friedrichwerderschen Kirche bei.

Ähnlich verhält es sich in „Falschwelt A 7 ?“, wo dieses Mal eine der von Kränen umrahmten Schlossbrückenfiguren aus dem obigen Bild als blaue Siebdruckmarke neben dem „Antiquariat Goethe & Co. Buchhandlung“ erscheint. Bekrönt wird das Ganze schließlich von einem Kaufhausbau.

Nicht ohne Hintersinn dürfte auch „Marks B 21“ sein, wo unter dem Schild „California“ ein weiteres mit der Inschrift „Not A Through Street“ (Keine Durchgangsstraße) zu erkennen ist und im unteren Teil ein Spirituosenfachgeschäft für Reisende und eine Parkuhr sichtbar werden. Letztere ein weitere Variation der häufig auftretenden Uhr in den Bildern Helle Jetzigs als Symbol der vergehenden Zeit. Ähnlich verhält es sich im übrigen auch mit den häufig als Siebdruckmarkierungen vorkommenden englischen Einbahnstraßenschildern, die eben nicht ausschließlich kompositionsbezogene Gliederungsfunktionen haben, sondern zugleich auch inhaltlich ausgerichtet sind.
Dem Kontrast von „Hochkultur“ und Banalität begegnen wir auch in den Bildern „Be Happy Be Rich 1“ und „Marks F 1“, in welchen uns eine lachende, kitschige Buddhagestalt mit dem Sternenbanner der USA inmitten einer überaus banalen Umgebung erscheint. Anspruch und Wirklichkeit treffen hier schmerzhaft aufeinander. Am Beispiel der letzten beiden Bilder wird auch ein weiteres Schaffensprinzip Jetzigs deutlich. Er verwendet bestimmte Fotomotive mehrfach in unterschiedlichen Konstellationen und Übermalungen.

Während die Bildkästen den Objektcharakter betonen, entstehen parallel hierzu auch Arbeiten auf Zink und Dibond, in den Serien „Fade to Grey“ und „Big City“, die durch ihr Material leicht sind und durch ihre geringe Stärke das Objekthafte zurückdrängen, dafür aber gleichsam vor der Wand zu schweben scheinen. Die Übermalung wird dabei im Fototeil zugunsten einer Blau- oder Brauntöne hervorbringenden chemischen Fotoentwicklung oder einer einen metallischen Effekt erzielenden Nachbelichtung zurückgedrängt.
Die Fototeile auf Dibondplatten sind jeweils mit einer Zinkplatte gleicher Größe kombiniert, in die die unterschiedlichen Fotoausschnitte und Markierungen in den grauen Grund geätzt wurden und auf der auch die freie Malerei in den Ätzspuren in Form von Tropfen und Spritzern präsent bleibt. Die Vielfalt der in großen Städten existierenden Kulturen und das hier herrschende großstädtische Chaos zugleich werden eindrücklich sichtbar. Der deutliche materielle Kontrast von Fotografie und Zink, von Glätte und Stumpfheit, von materialbedingter Kälte und Wärme, von Leichtigkeit und Schwere entspricht auch dem im Bild sichtbar werdenden inhaltlichen Gegensatz. Form und Inhalt bilden hier, wie auch in allen anderen Arbeiten des Malers eine überzeugende Entität. Im selben Moment wird aber auch das Verschwinden oder Versinken der unübersichtlichen Vielfalt und damit der Faktor Zeit erfahrbar.

Mit seiner fotografischen Herstellungstechnik, nämlich große Fotopapiere direkt zu belichten, dabei Stellen abzuwedeln, um diese dann mit einem zweiten oder dritten Motiv zu belichten, und anschließend die bis dahin für ihn unsichtbaren Fotomontagen in großen Wannen mit Entwicklerflüssigkeit zum gültigen Foto zu entwickeln, ist der Künstler einen ganz neuen Weg gegangen. Einerseits bewahrt er die alte Tradition des Herstellungsprozesses, andererseits aber beschreitet er damit einen ganz individuellen und neuen Weg zugleich. Selbst hierbei, beim rein technischen Verfahren, begegnen wir der für Jetzig so typischen Ambivalenz zwischen Fortschritt und Tradition.
Den Charakter des Werks von Helle Jetzig kann man mit dem Begriff der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zusammenfassen. Indem er uns mittels seiner Kunst ein artifizielles, d.h. ein künstliches (und künstlerisches) Bild oder besser: eine Vision unserer modernen Gegenwart und Zukunft vor Augen hält, die in manchen Teilen unserer Welt bereits schon eine Gewordene ist, gelingt es ihm, unsere Sensibilität für Probleme unserer Gegenwart zu schärfen.
Zugleich aber, und das macht seine ureigene Qualität aus, vermag er es, ästhetisch überzeugende Arbeiten entstehen zu lassen. Bekanntermaßen kommt der Begriff Ästhetik nicht allein von Schönheit, bzw. von der „Lehre vom Schönen“, was gemeinhin immer so verstanden wird, sondern bedeutete die „Wissenschaft von sinnlich Wahrnehmbaren“. Bei der Betrachtung seiner Bilder spielen beide Vorstellungen eine wichtige Rolle, denn es gilt hier wirklich und konzentriert wahrzunehmen, was die Freude am Schönheitlichen keinesfalls ausschließt. Es bleibt aber stets eine widerspenstige oder schmerzende Schönheit im Sinne Rainer Maria Rilkes: “Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen,….“1 Mehr kann und darf man nicht erwarten!

Abschließend sei ein kleines Wortspiel erlaubt, das die Qualität und das Wesen dieses Werks bestens beschreibt: Seine Arbeiten sind überzeugend J(j)etzig.