Regina Böker
Die Wirklichkeit des Reisens
aus: realities – Helle Jetzig, Rasch Verlag Bramsche 2007
Helle Jetzigs Kunst bezieht ihre besondere Faszination aus dem Wechselspiel erkennbarer Motive, deren fotografischer und malerischer Verfremdung, der Abstraktheit schwarzweißer Fotografie und stempelartiger fotografischer Siebdrucke, gegenstandsfreier Malerei und der Materialwirkung von hochglänzenden Lackschichten oder Metallen. In seinen Arbeiten bilden alle diese unterschiedlichen Bildwelten ein neues, in sich geschlossenes Ganzes, eine neue Wirklichkeit, die sich aus vielen „Realities“ zusammensetzt. Eine dieser „Realities“, ohne die die Bilder nicht denkbar wären, ist die Fotografie. Für seine Fotomotive, sehr häufig aus Großstädten wie beispielsweise New York, Paris, Madrid oder Mailand, muss Helle Jetzig viel auf Reisen sein. Was ihn nicht unbedingt zu einem passionierten Reisenden in Sachen Kunst macht. Seine Bilder entstehen über Wochen und Monate zu Haus im Atelier, beim Malen, im Fotolabor. Eigentlich ist das Reisen für ihn eher eine Störung, die ihn herausreißt aus dem künstlerischen Prozess des Bilderherstellens. Und doch gehört es zu einem wesentlichen Aspekt seiner Kunst, dient mittlerweile nicht mehr nur der Materialbeschaffung, sondern Reisen und Kunst beeinflussen sich auch wechselseitig. Es ist letztlich selbst eine dieser „Realities“. Für mich als Helle Jetzigs langjährige Begleiterin auf seinen Reisen soll es deshalb hier Gegenstand der Betrachtung sein.
Vor 20 Jahren, als ich ihn kennen lernte, hatte er weder die finanziellen Mittel noch Ambitionen zum Reisen. Allerdings nutzte er schon damals ein mehrwöchiges Künstlerprojekt im niederländischen Hoorn für die Jagd nach interessanten Fotomotiven, fotografierte Buhnenreihen am Meer und stählerne Panzer-Zielscheiben am Strand. Auch in den folgenden Jahren blieben Fotoaufnahmen Fundstücke von gelegentlichen Urlaubsreisen. Schiffswracks in der Bretagne, antike Steinskulpturen auf Zypern, eine alte Friedhofspforte in Ostdeutschland, Palmengärten auf La Palma. Daraus entstanden Bildobjekte mit einem größtenteils einfarbig gehaltenen stimmungsvollen Fototeil.
In dem Maße wie die Bedeutung der Fotografie in seinen Bildobjekten zunahm, ergab sich daraus natürlich auch ein vermehrter Bedarf an fotografischem Material. Außerdem veränderten sich mit einer immer malerischer und vielfarbiger werdenden Arbeitsweise auf immer großformatigeren Fototeilen die Sujets, waren es eher die grafischen Strukturen der Motive, die den Künstler interessierten. Runde Strohballen auf abgeernteten Feldern, ein abgebranntes Möbelhaus, Industrieanlagen, alte Speicher, Architektur überhaupt. Die erste Reise 1995 nach New York war die logische Konsequenz daraus.
Dies war quasi die Geburtsstunde der Jetzigschen Künstlerreisen. Nicht die Faszination des Fremden, die Lust am Reisen, keine Sehnsuchtsorte waren der Ausgangspunkt, sondern die Kunst selbst, die Suche nach einem Material, das perfekt zu seiner Kunst passte.
Auf jener ersten New-York-Reise, zusammen mit seinem Künstlerfreund und -kollegen Günter Schuster, bewegte er sich daher dann auch wie ein Getriebener. Von morgens bis abends war er mit der Kamera unterwegs in Manhattan – nach zwei Tagen bereits waren die Füße voller Blasen – fotografierte und fotografierte. Mit einem Fundus von mehr als tausend Aufnahmen stürzte er sich, zurückgekehrt, in die Arbeit, um gleich im folgenden Jahr wieder nach New York zu fliegen. Noch mehr und noch besseres Bildmaterial, bessere Fotoqualitäten, neues Filmmaterial, eine neue Kamera, neue Blickwinkel, den Fokus auf andere Dinge lenken – vielfältige Gründe. Die gleiche leidenschaftliche Unruhe treibt Helle Jetzig auf Reisen noch heute an. Nie sind seine Reisen ein gemütlicher Spaziergang. Manisch werden die Städte zu Fuß durchlaufen, immer auf der Suche nach den optimalen Aufnahmen.
Er fährt immer ohne bestimmten Plan und ohne Vorbereitung auf das, was „man sehen muss“. Er lässt sich einfach treiben, interessiert sich nicht für Namen oder Bezeichnungen von Straßen und Gebäuden, dafür, wo er sich gerade befindet, konzentriert sich allein auf seine subjektiven Seh-Eindrücke. Auch später weiß er nicht unbedingt, was er fotografiert hat, und ob das in irgendeiner Weise repräsentativ ist für den besuchten Ort. Dabei verweigert er sich dem Touristischen nicht bewusst, er setzt lediglich seine eigenen Prioritäten. Als Privatmensch hat er zwar Interesse an Land und Leuten, interessiert sich für die Museen und Bauwerke, für Kunstausstellungen, für Kultur. Aber auf seinen Reisen hat er zumeist den Kopf dafür nicht frei. So gibt es in Mailand keine Scala, in Paris keinen Louvre und in New York kein Nightlife für ihn. Die eigene Arbeit nimmt ihn gefangen, fordert die ganze Kraft und erfüllt ihn gleichzeitig total. Er bewegt sich wie ein Seismograph, versucht alles aufzunehmen, im doppelten Wortsinn.
Die besessene Motivsuche ist typisch für die Hingabe, mit der er sich in jeden seiner Arbeitsschritte stürzt. Wie er sich als Maler ganz der Malerei fast rauschhaft überlässt, ist Helle Jetzig auf Reisen ganz Fotograf, der sich in seine Arbeit regelrecht „hineinwühlt“.
Ein Fotograf, der schon beim Fotografieren an seine Kunst denkt und der formale, technische und bildnerische Vorstellungen und Erfahrungen mitbringt. Für seine Fotos sucht er bestimmte Punkte zu verschiedenen Tageszeiten und Wetterverhältnissen mehrmals auf, um die optimalen Lichtverhältnisse für seine Aufnahmen zu haben, läuft die Straßen auf und ab, vor und zurück, umzingelt seine Motive regelrecht, denn je nach Standort des Fotografen verschieben sich Dinge und Gebäude zueinander, ändern sich die Verhältnisse der Objekte zueinander, die Perspektiven, entstehen ganz unterschiedliche Fotos vom selben Motiv. So hat er z.B. das Hardrock Cafe mit dem Bildschirm daneben, auf dem Rekrutenwerbung des US-Militärs läuft, aus allen möglichen Richtungen fotografiert, und auf jeder Aufnahme scheint sich die Gitarre ein bisschen weiter gedreht zu haben.
Schon beim Fotografieren reizt ihn die künstliche Sichtweise, die durch die Kamera entsteht. Die Möglichkeit, durch die Einstellung des Zooms beliebige Ausschnitte der Realität zu bestimmen, mit Hilfe des Teleobjektivs Nahes und weit Entferntes auf eine Ebene zusammenzuziehen, wie es dies für das menschliche Auge nicht möglich ist.
Alle diese Aspekte des Fotografierens sind das Handwerkszeug des Profis, dem es darum geht, das, was er sieht, optimal festzuhalten. Das, was er festhält, die inhaltliche Seite seiner Arbeit, hat mit ästhetischem Empfinden, Emotionen, Instinkt und persönlichen Vorlieben und Beweggründen zu tun. Auch wenn es in erster Linie die formalen Strukturen seiner Motive sind, die den Künstler interessieren, beweisen seine Fotos zudem ein sensibles Gespür für Dramatik, einen kritischen Blick auf soziale Gegebenheiten und Widersprüche, ein Auge für die kleinen Dinge am Rande, das Besondere, das Wesentliche, das Verstörende, das Kuriose, die Menschen.
Allerdings geht es ihm mit seiner Kunst nicht um eine Darstellung dieser Inhalte oder um ein Porträt der Orte wie New York, Mailand oder Paris. Mit ihr geht es ihm um Strukturen und Rhythmen, um Malerei, um die Mechanismen des Wahrnehmens und Abbildens, um die verschiedenen Bild- und Wirklichkeitsebenen, um das Machen selbst. Aber die Bilder transportieren die Inhalte, die der Fotograf eingefangen hat. Orte und Szenen sind als Realität trotz aller Verfremdung präsent.
Darüber hinaus beeinflussen sie häufig auch die Kunst selbst.
Am tiefgreifendsten haben Helle Jetzig sicherlich die Reisen nach New York und die dort entstandenen Aufnahmen beflügelt. Mit ihnen hat er genau sein Material gefunden. Auch nach mehr als zehn Jahren und mehreren Besuchen inspiriert es ihn nach wie vor, und ist New York für ihn absolut faszinierend geblieben.
Mit New-York-Fotos haben sich in wenigen Jahren seine Arbeiten von den ursprünglichen Materialkombinationen und Bildobjekten, in denen ein übermaltes Foto einem rein malerischen Teil gegenüberstand, hin zu seinen heutigen Malereien auf schwarzweißen Fotoüberblendungen aus mehreren Motiven entwickelt. Und sein Fundus ist noch längst nicht ausgeschöpft. Im Gegenteil: Wenn er seine Kontaktabzüge durchforstet, entdeckt er immer wieder Neues, das ihn zu immer neuen Bildideen anregt. Es reizt ihn außerdem immer wieder, sich erneut auf die Reise zum Big Apple und auf die Fotojagd zu begeben.
Manche Bilder macht New York geradezu selbst, wie etwa die „Composition“-Serie, für die der Times Square, diese gigantische schrecklich „schöne neue Welt“ aus übereinander geschachtelten Werbetafeln, Leuchtreklamen, Laufbändern, Bildschirmen und Gebäuden, verantwortlich ist. Eine vielschichtige Bilderwelt, die eine spätere Kombination verschiedener Motive überflüssig macht. Hier hat Helle Jetzig durch die Wahl bestimmter Ausschnitte deshalb die Komposition bereits beim Fotografieren angelegt.
In Taiwan erlebt der Künstler erstmals Asien, eine für ihn bis dahin fremde Kultur. Hier macht er nebenbei Aufnahmen, die so sehr für sich selbst stehen, dass er sich entscheidet, sie auch als reine Schwarzweißfotografie zu zeigen. Vor der Reise hat er dieses Medium für seine Arbeit nie in Erwägung gezogen, Fotografie lediglich als spannenden Gegenpart zur Malerei gesehen, als Material für seine eigentliche Kunst, aber seither hat sich bei ihm die Fotografie emanzipiert, gibt es immer wieder Fotos, die einen Stellenwert als eigenständiges Kunstwerk genießen.
Unter dem Einfluss des Südwestens der USA kreiert er ganz ungewöhnliche Serien, die auf der einen Seite mit den starken Natur- und Landschaftseindrücken zu tun haben und den sichtbaren Zeugnissen der Zivilisation auf der anderen. Mit Aufnahmen des so genannten Boneyard, einem viele Quadratkilometer großen Abstellplatz für ausgediente Militärflugzeuge in Tucson, Arizona, von Raben, vom Death Valley, von Petroglyphen der Ureinwohner oder von großen Radioteleskopen zum Abhören des Weltraums in New Mexico sind bedeutungsschwere Bilder entstanden, die große Themen der Menschheitsgeschichte berühren: der Traum vom Fliegen, Tod und Vergänglichkeit, Philosophie, Religion, Kultur.
Die europäischen Serien, die als großer Zyklus mit dem Titel „Die Alte Welt“ angelegt sind, unterscheiden sich sowohl von den amerikanischen, als auch untereinander erheblich. Ein Indiz dafür, dass die verschiedenen Orte ihre Bilder prägen. Allerdings können sie das nur indirekt, denn mehr als ihre tatsächliche Unterschiedlichkeit ist die individuelle Sichtweise und Auswahl des Künstlers verantwortlich für die Bilder, die es von ihnen gibt. Die Bilder sind von dem abhängig, was der Künstler gesehen hat, was ihn gereizt hat, zu fotografieren, und mehr noch, zu welchen Bildern ihn sein gewonnenes Fotomaterial inspiriert hat. Dies wird sehr deutlich an den Arbeiten, die mit Mailand-Aufnahmen entstanden sind. Hier sind es nicht die großen Modehäuser und Geschäftsstraßen, die Helle Jetzig anziehen, sondern eher die historische Architektur, die Durch- und Ausblicke, die er auf dem Dach des Mailänder Doms erlebt, die großen Plätze – und, im Kontrast dazu, die riesigen Plakatwände, die überall in der Stadt aufgestellt sind. Außerdem trifft er auf die Zeichen einer lebendigen Gegenkultur der Friedensbewegung und der Globalisierungsgegner, fotografiert Graffiti, Schriften und Stencils, mit Hilfe von Schablonen gesprühte Zeichen auf Wänden und Mauern. Mit diesem Fotomaterial sind unterschiedliche Bilderserien entstanden.
Einesteils sind dies sehr surreale Bilder, die wie der Blick in farbig leuchtende Traumwelten aus stürzenden Linien, verstörenden Aufsichten oder leeren Plätzen vor geheimnisvollen Gebäuden wirken, über denen verführerische Werbeflächen Halt zu versprechen scheinen. In „Roof Walk“ fliegen darüber hinweg noch geflügelte Mobiltelefone wie niedliche Schmetterlinge als ironischer Kommentar.
Andererseits haben die schablonenhaften Stencils Helle Jetzig gereizt, als Technik wie auch inhaltlich. In „Both Sides Now“ etwa finden sie sich als Spuren jugendlicher Protesthaltung vereint mit dem Firmenlogo von Trussardi – ebenfalls eine Schablone, genau wie die Siebdrucke, die Helle Jetzig zusätzlich darauf setzt. Damit werden die unterschiedlichen „Realities“ kontrastiert und ergänzen sich doch gleichzeitig zu einer neuen Wirklichkeit im Bild.
Helle Jetzigs Arbeiten spielen mit diesen Bildwelten. Sie sind immer auch, aber niemals nur Fotografie, Abbildung, Malerei, Siebdruck, abstraktes Bild, Stadtporträt etc…Und sind das alles auch nicht, sondern etwas Eigenes, mit eigener Ausstrahlung und Aussage – typische Jetzigs eben.