Michael Stoeber

Durch das Prisma des Gefühls

„New York Reloaded“ – Zum Werk von Helle Jetzig

in: HELLE JETZIG realities 2.0, Galerie von Braunbehrens, München 2017

Symbiose Der Künstler schafft Bilder, die Hybride sind aus Fotografie und Malerei. Auch wenn er sich zu Recht eher als Maler denn als Fotograf begreift, haben diese unterschiedlichen Disziplinen gleichermaßen Anteil an seinen Werken. Damit gehört Helle Jetzig zu den wenigen Künstlern, die in ihren Arbeiten beide Medien symbiotisch miteinander verbinden. Denn seitdem die Fotografie in der Mitte den 19. Jahrhunderts erfunden wurde, steht sie regelmäßig in Konkurrenz zur Malerei. Jahrhundertelang war deren Aufgabe die Mimesis gewesen: das Wirkliche möglichst wirklichkeitsgetreu darzustellen. Das konnte das unbestechliche Auge der Kamera auf Anhieb besser. Die Folge war, dass begabte Maler die neue Freiheit, die mit der Existenz der Fotografie für sie verbunden war, verstärkt zu malerischen Experimenten, Fantasien und Fiktionen nutzten, während ihre nicht so begabten Kollegen häufig Fotografen wurden und mit der Kamera zu „malen“ versuchten. Es hat lange gedauert, bis sich die Fotografen auf die Gesetze ihres Mediums besannen und aus deren konsequenter Anwendung die künstlerische Legitimität für ihre Bilder gewannen. Heute besteht Einigkeit darüber, dass Kunstwerke im einen wie im anderen Medium geschaffen werden können, wobei die medialen Unterschiede nicht verwischt, sondern ganz im Gegenteil prononciert werden. Die Fotografie ist nach wie vor gerätebasiert; und auch wenn ihre Apparate immer raffinierter und leistungsfähiger geworden sind, kann die Fotolinse doch immer nur aufnehmen, was sich vor ihr befindet. In dieser Tatsache und in ihrer „Überlistung“ (Vilém Flusser) liegen Glanz und Elend der Fotografie. Die Ausdrucksformen der Malerei sind nach wie vor abhängig vom künstlerischen Talent und der Empfindungsfähigkeit des Malers. Im Idealfall kommen beide, der Maler vor seiner Leinwand und der Fotograf hinter seiner Kamera, zu Bildern, die durch ihre Persönlichkeit nachdrücklich geprägt werden, um eine berühmte Definition der Kunst von Emile Zola in Anschlag zu bringen: „L´art, c´est le monde vu par un tempérament.“ 

Bildskizzen Helle Jetzig vereint beide Medien, Fotografie und Malerei, in ebenso spektakulärer wie singulärer Weise in seinem Werk. Wobei er selbst den Anteil der Fotografie in der Beschreibung seiner Arbeit im Vergleich zur Malerei eher minimiert. Die Fotografien, die er benutzt sind für ihn „Bildskizzen“, so wie Maler für die Anfertigung ihrer Gemälde gelegentlich Vorskizzen benutzten. Nur, dass seine Fotografien für Jetzig zugleich auch zu Bildträgern seiner Malerei werden: nicht nur ideell, sondern auch materiell. Sie nehmen in seinem Werk den Platz ein, den traditionellerweise in der Malerei die Leinwand einnimmt. Er malt auf ihnen. Was bedeutet, dass die Fotografien, häufig am Computer bearbeitet, für die Motive und Kompositionen seiner Bilder sorgen. Die digitalen Interventionen, denen die Aufnahmen unterworfen werden, sind dabei mehr oder weniger dieselben, die auch zu Zeiten, als der Künstler noch mit analogem Material in der Dunkelkammer gearbeitet hat, für ihn üblich waren: Montage und Überblendung von Motiven in einem Bild, Veränderung von Fluchtlinien wie von Formaten und Perspektiven. Kurz: Konstruktion und Dekonstruktion. Die Eingriffe bereiten das Feld für Jetzigs Malerei, die darauf angelegt ist, die Temperatur und den Charakter des Bildes grundlegend zu verändern, auch wenn die Bildskizze dabei den Weg weitgehend vorgibt. Um gelingend von ihm abzuweichen, benutzt der Maler virtuos nicht nur ein von ihm entwickeltes Instrumentarium und Regelwerk, sondern verlässt sich zum Teil auch auf die Gnade des inspirierenden Zufalls. Dünnflüssiges Acryl, Tusche oder Tinte, vorsichtig auf das Foto ausgegossen, formiert sich zuerst einmal selbst, bis der Maler die Farbe durch präzise Eingriffe steuert. Danach wird das Bild lackiert und geschliffen. Dieser Prozess aus Malen, Lackieren und Schleifen, wiederholt sich viele Male. Am Ende setzt Helle Jetzig auf das Gemälde ausgewählte Siebdruckmotive und versiegelt das Bild durch spiegelnden Lack. Dieser hebt nicht nur dessen Motive in sich auf wie Bernstein prähistorische Fossilien, sondern spiegelt auch das höchst gegenwärtige Bild seiner Betrachter. 

Reloaded Im Deutschen: Wieder geladen. So, wie man eine Waffe mit neuer Munition auflädt. Der Begriff bedeutet in der Kunst zum einen, dass man Werke noch einmal bearbeitet. Zum anderen, dass man sich erneut mit einem Thema befasst, das man zuvor schon einmal verhandelt hat. New York als Sujet taucht im Werk von Helle Jetzig nun zum dritten Mal auf. Nachdem er die Stadt bereits 1995/96, dann noch einmal 2005/2006 besucht hat, ist er in 2016 erneut hingefahren. Wie auf viele Künstler übt sie einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn aus, wobei New York für ihn vor allem Manhattan meint. Aber was ihn an der Stadt interessiert, sind keineswegs die Sehenswürdigkeiten, welche die Touristen locken. Nicht, dass Jetzig sie verschmähen würde, aber in seinen künstlerischen Werken finden sie sich so gut wie nicht wieder: kein Empire State Building, keine Freiheitsstatue, nicht das Seagram Building, Rockefeller Center oder Guggenheim Museum. Kein Manhattan bei Nacht. Eher übt er seine Streifzüge durch die Stadt, bei denen er die Kamera immer dabeihat, in der Haltung eines Flaneurs aus. Eines Mannes, der seine Schritte völlig frei lenkt und sich von dem fesseln lässt, was sein Auge bei diesen mehr oder weniger absichtslos und zufällig gewählten Spaziergängen entdeckt. Das kann völlig unspektakulär sein: ein Mauervorsprung, eine Tür, ein Haus, ein Augenpaar, ein Gesicht, ein Mensch, denen andere Passanten keinen Blick schenken. Spektakulär werden diese Beobachtungen durch die Überlegungen, die der Flaneur an sie knüpft. Man lese daraufhin das Gedicht „A une passante“ von Charles Baudelaire. Er ist es, der den Flaneur zusammen mit Edgar Allen Poe als literarische Figur im 19. Jahrhundert in die Dichtung eingeführt hat. Im 20. Jahrhundert wird der Flaneur von Walter Benjamin als seismografischer Beobachter urbanen Geschehens porträtiert und in der Kunst von den Surrealisten wie den Situationisten geschätzt. In ihrer Nachfolge bewegt sich auch Helle Jetzig bei seiner Erkundung von New York durch die Straßen der Stadt.

Farbe „Anch`io sono pittore.“ So wie Corregio vor einem Bild Raffaels von sich als Maler gesprochen hat, so ähnlich müssen wir uns auch Helle Jetzig vor seinen schwarzweißen „Fotoskizzen“ vorstellen. Erst mit dem Auftrag der Farbe setzt die eigentliche Bildwerdung ein. Der Künstler operiert dabei ausschließlich mit den Grundfarben, blau, gelb und rot. Die vielen unterschiedlichen Farbwerte seiner Bilder kommen durch Mischungen zustande, die auf der Bildoberfläche selbst geschehen. Sei es, dass die Farben nass in nass zusammenfinden oder dass der Künstler im Verlauf seines komplexen Malprozesses vielfältige Farbschichtungen und Überlagerungen vornimmt. Das Resultat ist jedes Mal von der herkömmlichen Kolorierung eines Fotos ebenso sternenweit entfernt wie von der Absicht, mit den Farben in irgendeiner Weise naturalistische Effekte erzielen zu wollen. Schauen wir auf „N. Y. Reloaded A 1“, eine Ansicht in Downtown Manhattan, für die Jetzig zwei Aufnahmen zusammengeschoben hat und deren Motiv auch noch in anderen Formen und Formaten im Werk des Künstlers auftaucht. Eine leuchtende Helligkeit von vollkommener Künstlichkeit liegt auf dem Bild. Man mag nicht glauben, dass sein warmer Schein dem Sonnenlicht zu danken ist, aber elektrisches Licht ist es ganz offensichtlich auch nicht. Zu unregelmäßig und in sich unterschieden sind seine Abtönungen von Gelb und Weiß. Mit dem Ergebnis, dass wir – wie eigentlich immer in Jetzigs Bildern – nicht wissen, ob es auf dem Gemälde Tag oder Nacht ist. Der koloristische Kunstgriff hebt das Werk trotz seines fotografischen Realismus aus der Sphäre der Wirklichkeit und führt es in das Reich des Traums. Allerdings eines wenig idyllischen Traums. Das Gelb erscheint uns – je länger wir schauen, desto intensiver – von schwefliger Konsistenz. Der Gedanke an das Inferno, der sich damit fast automatisch verbindet, bleibt indes reine An- und Ausdeutung. Das Bild hat nichts Höllisches, aber viel Ungemütliches. Das liegt an seinen Brüchen, Ungereimtheiten, Übersteigerungen und Künstlichkeiten. 

Exaltation Die Farbe treibt dem Bild seinen Realismus aus. Sie sorgt aber auch dafür, dass wir das Werk unter einer bestimmten Beleuchtung und in einer spezifischen Färbung sehen. Sie kultivieren ein Zuviel, eine Exaltation und einen Überschwang, wie sie sicher auch die Stadt auszeichnen. Besonders deutlich wird das beim Blick auf das Kinoplakat, „me before you“, in dem oben beschriebenen Gemälde, ein Bild im Bild, wie es der Künstler schätzt. Ganz offensichtlich wirbt es für einen Liebesfilm, der durch die überhitzten Farben, die Jetzig ihm überstreift, von vornherein an Glaubwürdigkeit verliert. Die Rottöne des Filmplakats wandern zugleich auch in das Bild der Stadt, wo sie andeutungsweise eine Fassade und ein Auto überziehen. So verbindet der Künstler eine Hypertrophie mit einer anderen. Die imposanten Häuser, die Autoschlange und die Geschäftigkeit in den Straßen werden in eine exaltierte Farbfiktion getaucht. Eine weitere Verknüpfung zwischen Fotografie und Malerei, zwischen Form und Inhalt des Werks stellt der dunkelgrüne Siebdruck her. Er konstituiert zum einen einen kühlen Kontrapunkt zur Hitze des Bildes – wie eine Allianz von hot und cool jazz. Zum anderen spiegeln seine Motive, die Campbell Suppendose, der Hinweis auf das Parkhaus und die Ampel, die ikonografischen Themen des Gemäldes, wobei die gestalterische Reduktion des Siebdrucks einmal mehr die hohe Künstlichkeit des Werks betont. Was hier im Einzelnen beschrieben wird, die widersprüchliche und faszinierende Spannung zwischen Fotografie und Malerei, objektiver und subjektiver Darstellung, industrieller Fertigung und Handarbeit, Glätte des Fotopapiers und gestischer Peinture, bestimmt grosso modo alle New York-Bilder des Künstlers aus der „Reloaded“-Serie. Seien es nun Straßenszenen in Downtown oder Midtown Manhattan, am Times Square oder in der Nähe der Brooklyn Bridge, am Ground Zero oder beim One World Trade Center. Indes greift auch die Behauptung nicht zu weit, dass diese Spezifika nicht allein Helle Jetzigs aktuelle New York-Bilder auszeichnen, sondern ebenfalls für das Gesamtwerk des Künstlers, vor allem aber für seine Stadtporträts aus Europa und den USA, charakteristisch sind.  

Erhaben Es ist die Farbe, die Helle Jetzig zum Maler macht und die spezielle Anmutung seiner Bilder aus sich hervortreibt. Sie bewirkt, dass der dokumentarische Gestus seiner Fotobilder, ihr Realismus, in den Hintergrund tritt und die Idiosynkrasien der Malerei vorherrschen. Die Welt in Farbe sehen heißt, sie durch das Prisma des Gefühls sehen. Das wurde schon in dem berühmten Renaissancestreit zwischen Florenz und Venedig deutlich, in dem es um die Frage ging, was wichtiger in der Malerei sei: Farbe, coloriti, oder Linie, disegno? Das war bereits damals weit mehr als ein nur akademischer Streit. Da ging es auch um das Primat eines spezifischen Wirklichkeitsverständnisses und Menschenbildes. Florenz votierte für die Linie und damit für ein rationales, messendes Weltverständnis. Venedig plädierte für die Farbe und damit für die Emotion. Kein Wunder, beherbergte sie doch Maler in ihren Mauern, nach denen man Farben benannt hatte: tizianrot, veronesegrün. Die Farben, in die Helle Jetzig seine Ansichten von New York getaucht hat, machen, dass der Big Apple Himmel und Hölle zugleich ist. Dass die Stadt aussieht wie ein großes Versprechen und zugleich wie jemand, dem nicht zu trauen ist. Dass sie Gnade und Erlösung verspricht und zugleich Finsternis und Verdammnis ausgießt. Helle Jetzigs Bilder, die weder Tag noch Nacht kennen, sondern nur ein ewiges Zwielicht, sind wie kontaminiertes Konfekt. Ein süßes Versprechen und zugleich eine bittere Enttäuschung, die nicht selten auch tödlich verläuft. Die Stadt als riesige Herausforderung. „If you can make it there, you’ll make it anywhere.“  Sie beansprucht alle Kräfte des Menschen und manchmal reichen sie nicht aus. Hinter der nüchternen Bestandsaufnahme der Fotografie machen Helle Jetzigs Farben und seine Malerei die Stadt zum monstre sacré, zum heiligen Monstrum. Ebenso anziehend wie abstoßend, faszinierend und fesselnd, kalt und grausam. Obwohl vom Menschen gegründet, scheint die Stadt zu groß für ihn zu sein. Wie ein überwältigendes Naturereignis, wie das Erlebnis des Erhabenen: schaurig schön.