Isabelle Hofmann

Im Dickicht der Wirklichkeiten

aus: Helle Jetzig, 15 YEARS, Katalog Galerie Peter Borchardt, Hamburg 2001

Empire State Building, Reichstag, Eiffelturm. Ein Kaleidoskop aus Wahrzeichen prunkt hoch am Himmel des Hamburger Hauptbahnhofes, darunter Name und Adresse des Reiseveranstalters. Tagtäglich füttert uns die Werbung mit Schlüsselreizen, auf die wir konditionierten Medienmenschen anspringen wie der berühmte Pawlowsche Hund auf das Klingelzeichen: Der Anblick eines charakteristischen Gebäudes reicht, um vor unserem inneren Auge Metropolen wie New York, Berlin oder Paris entstehen zu lassen. Aus dem Gedächtnis ergießt sich eine Bilderflut, unzählige atmosphärische Eindrücke, markante Gerüche und Geschmacksnoten setzen Sehnsüchte frei, und wie ferngesteuert marschieren wir ins nächste Reisebüro.
So ähnlich funktionieren auch die Bilder von Helle Jetzig.

Auf den ersten Blick spürt man den eigentümlichen Sog, der von seinen suggestiven Fotomontagen ausgeht. Eine Magie, der man sich nicht erwehren kann und die einen unwillkürlich immer tiefer hineinzieht in dieses geheimnisvolle Dickicht aus Formen und Farben, das sich zu sphärenhaft glühenden Stadtvisionen zusammensetzt.

Jeder, der schon einmal mit dem Zug gefahren ist, kennt den Effekt simultan wahrgenommener Wirklichkeiten. Draußen fliegt die Landschaft vorbei, derweilen spiegelt die Glasscheibe den beleuchteten Innenraum: das gegenüberliegende Fenster des Abteils, die Menschen, sogar die Landschaft auf der anderen Seite der Gleise. Parallel nehmen wir Versatzstücke dreier Realitäts-Ebenen war, mitunter sogar vier, wenn der kleine ”Bruchsicher”-Aufdruck am unteren Rand der Scheibe uns diese als eine Objekt-Ebene verdeutlicht. Die durch filmische Überblendungen entstandene Gleichzeitigkeit, an die unser Videoclip-geschultes Auge heute gewöhnt ist, hat Helle Jetzig als ebenso vertraute wie verstörende Momentaufnahme auf die Fäche gebannt. Gewohnt, das Bild vor allem als Abbild zu sehen, laufen wir geradewegs in die Falle, die der Künstler gestellt hat. Helle Jetzig spekuliert mit Wahrnehmungsmechanismen, mit kollektiven Erinnerungsmustern – nur wesentlich differenzierter und im wörtlichen Sinn vielschichtiger, als wir es aus der Werbung gewohnt sind. Spontan meint man, seine assoziativen Städteporträts wiederzuerkennen, gleichzeitig verhindern subtile Störungen das ”Abhaken” des Werkes. Gezwungenermaßen tastet das Auge Strukturen und Farbfelder ab, diese hochempfindliche Balance zwischen Verortung und Surrealität, die erst sukzessiv zu der Erkenntnis führt, dass Jetzigs Werk nicht der Wirklichkeit sondern einer ungemein raffinierten Manipulation entspringt. ”Ich bringe Bilder aus verschiedenen Bereichen zusammen, die im Prinzip gar nichts miteinander zu tun haben,” erklärt der Künstler. ”Kaum einer hat heute noch die Ruhe, sich ein Bild richtig anzusehen. Alles muß schnell gehen. Die Leute reagieren nur noch auf Chiffren. Diesen Effekt will ich mit meinen Bildern unterlaufen.” So führt in ”Uncertain Places B3 (Know Where You’re Going)“ der Blick durch die Fensterfront eines dunklen, blau-violett getönten Innenraumes auf die Straße, zu den warm orange-rote beschienenen Hausfassaden der gegenüberliegenden Seite. So der erste Eindruck von Ferne. Von Nahem jedoch glaubt man Sinnestäuschungen zu erleiden und taumelt mit den ineinander verschränkten Perspektiven unversehens in den Abgrund. Ein Trip, der ein kleines bisschen einem Rausch gleicht.

Anfang des 20. Jahrhunderts waren es die Dadaisten, Futuristen und Orphisten, die – begeistert von den Errungenschaften der Technik und dem pulsierenden Leben der Metropolen – die Idee der visuellen Gleichzeitigkeit verschiedener Wirklichkeiten künstlerisch umsetzten. Bahnbrechend wirkte die energiegeladene Eiffelturm-Serie Robert Delaunays (um 1910/11), in denen der Franzose erstmals Formen in verschiedene Perspektiven – Ansicht, Aufsicht, Untersicht – auffächerte, Licht und Farbe in prismatische Facetten aufspaltete und dadurch eine bislang unbekannte Bewegung auf der Bildfläche erzeugte. Obwohl sich Delaunay in der Folge vom Gegenstand löste und eine Malerei der ”reinen Farbe” entwickelte, ist seine Erkenntnis: ”Farbe ist ihre eigene Funktion; ihre gesamte Bewegung ist in jedem Augenblick präsent, wie in der musikalischen Komposition der Epoche von Bach oder in unserer Zeit guter Jazz”, mit Helle Jetzigs Auffassung verwandter, als es den Anschein haben mag.

Ähnlich wie Delaunay bringt auch Jetzig die Farbe zum Swingen. Nur, dass ein fotografisches Schwarz-Weiss-Gerüst Takt und Thema des ”Boogie-Woogie” bereits vorgibt. Weiter ist das Ausgangsmaterial für den Künstler nicht von Belang. Helle Jetzig versteht sich als Maler. Was ihn fesselt sind formale Attraktionen, nicht die Bedeutungen der Bauten, deren Namen und Funktionen er oftmals noch nicht einmal kennt. Dennoch arbeitet er nicht gern mit vorgefundenen Dingen. ”Ich suche mir die Motive, an denen ich hängen bleibe, wenn ich durch die Straßen laufe, lieber selbst.” Und hängen bleibt er an den kompositorischen Qualitäten der Architekturen: Oberflächen, Strukturen, Rhythmen. Das Gleichmaß der Fenster und Fassaden. Die Musikalität, die in den Staffelungen unzähliger Schilder oder Schrifttafeln liegt. Die Dissonanz, die sich durch Verschiebungen von Perspektiven ergibt. ”Gebäude kann man wunderbar malerisch modellieren”, erklärt Jetzig seine Vorliebe für Technik. ”Bei organischen Formen funktioniert das einfach nicht so gut.”

Trotzdem greift er manchmal auf diese zurück. Während des Kosovo-Krieges entstanden apokalyptisch-giftgelbe Strandszenen mit – unberührt von den über ihren Köpfen kreisenden Hubschrauber-Flotten – sonnenbadenden Frauen. Jetzigs ”Nonnen am Meer” (1998), eine Reminiszenz an Caspar David Friedrichs ”Mönch am Meer”, sind in zweifacher Hinsicht aufschlußreich: Zum einen verraten sie den Romantiker, der sich hinter dem Formalisten versteckt und der zweifellos auch verantwortlich zeichnet für die verführerische Schönheit der Architekturbilder.

Zum anderen wird hier die Wirkung eines Verfahrens offensichtlich, mit dem Jetzig in vielen Werken operiert: Die Vervielfältigung bestimmter Motive (Badende und Hubschrauber), wie sie aus der Pop-art hinlänglich bekannt ist. Die Verdoppelung von Gebäuden ist eines der Irritationsmittel, das zu der anfangs erwähnten Verunsicherung des Betrachters beiträgt, der zwar sieht, aber nicht realisiert; denn diese Doppelungen erscheinen verblüffenderweise völlig stimmig. Dadurch schafft der Künstler – ohne Einsatz plakativer Symbole – eine atmosphärische Dichte, die den Betrachter auf die richtige Spur setzt: Das Wolkenkratzer-Gedränge der ”Verticals” vermittelt das pulsierende Leben Big Appels, die behäbigen, in die Breite gehenden Monumente und Plätze das erstarkte Selbstbewußtsein der deutschen Hauptstadt.
Sind die Fotos erst einmal auf die Papierrollen projiziert und auf flache Holzkästen aufgezogen, beginnt der langwierige Malprozess im Atelier. Je nach Stimmungslage verändert Helle Jetzig die gegenständliche Grundlage, Helligkeitswerte und Plastizität, polarisiert und dynamisiert durch das virtuose Spiel komplementärer Farbklänge (Rot-Grün, Gelb-Violett, Blau-Orange). Oder harmonisiert durch eine bis in die feinsten Nuancen abgestufte Ton-in-Ton-Malerei.

Jedes Bild besteht aus zehn bis zwanzig lasierenden Farb- und transparenten Lackschichten. Jede einzelne wird angeschliffen, bis auch das kleinste Staubkörnchen verschwunden ist und die Motive in der Bodenlosigkeit zu versinken scheinen. Ein Vorgang, der bei Flächen bis zu zwei mal vier Metern über drei Monate in Anspruch nehmen kann. Erst allmählich erschließen sich Delikatesse und Technik dieser geradezu psychedelischen Farbenpracht, deren phänomenale Leucht- und Suggestionskraft an Traumwelten erinnern – nah und doch ungreifbar. Eine Wirkung, die durch ein zusätzliches Medium noch verstärkt wird. Vor der letzten Schicht setzt Helle Jetzig Siebdrucke ins Bild, die gleich mehrere Funktionen übernehmen. Zum einen wirkt der Druck wie ein Stempel, als optische Klammer, der einzelne Kompositionselemente, die auseinanderzufallen drohen, zusammenzieht. Zum anderen bringt das in Positiv- und Negativflächen geteilte Motiv einen zusätzlichen Grat an Abstraktion ins Spiel. Und drittens übernimmt er eine ähnliche Rolle wie die immer wieder auftauchenden Ornament- und Schrift-Blöcke, die matt auf der glänzenden Oberfläche zu schwimmen scheinen: Auch der Siebdruck verstärkt den Objektcharakter der Bilder und bricht die Illusion – nur, dass er eine ungleich filigranere Formsprache ermöglicht.

Es ist die unbändige ”Lust an malerischen Abenteuern”, die zu der für heutige Begriffe ungewöhnlich altmeisterlichen Arbeitsweise führte. 1956 in Emden geborenen, studierte Helle Jetzig von 1978-1984 in Osnabrück, wo er auch heute lebt und arbeitet. Das Studium gab ihm wenig. Er sei, so sagt er mit ironischem Lächeln, ”im Grunde ein Autodidakt”. Immerhin bot die Universität die Möglichkeit, uneingeschränkt zu experimentieren. ”Die traditionelle Malerei, die dort gelehrt wurde, hat mich nie interessiert. Ich habe schon damals meine Säcke zusammengenäht und Materialschlachten veranstaltet. Das war auch in Ordnung. Ich wurde in Ruhe gelassen.” Wie breit das stilistische Spektrum des Kunststudenten schon Anfang der 80er Jahre angelegt war, belegen die unterschiedlichen Bildobjekte, die innerhalb kurzer Zeit entstanden. Von Polke und Richter inspirierte, großformatige Rasterbilder einerseits, die informellen Sand- und Sackbilder andererseits. Emil Schumacher und Antoni Tàpies gaben entscheidende Impulse, vor allem aber der ”seelenverwandte” große Experimentator Robert Rauschenberg, dessen stetige Wandlungsfähigkeit bis heute Vorbild für den Osnabrücker ist. Am stärksten ist Rauschenbergs Einfluss in den expressiven Materialcollagen Anfang der 90er Jahre spürbar. Wandobjekte aus Holz, Metall, Kunststoff und Fotografie, in denen Jetzigs heutiges Thema bereits anklingt: Das Infragestellen von Wirklichkeit.

Zwei Realitätsebenen prallen hier aufeinander, die eine von großer haptischer Qualität, die andere von illusionistischer. Beide beanspruchen Gleichberechtigung, beide bezeichnen unterschiedliche Aggregatzustände von Wirklichkeit. Nur daß die Sperrholzplatten, Stahlnetze und Teekisten auf sich zurück verweisen und die Abbilder in ihrer surrealen Färbung auf eine immaterielle, transzendentale Welt. Die Welt der Liebe zweifellos, wie sie in den Porträt- und Aktaufnahmen seiner Frau zum Ausdruck kommt. Aber es gibt auch Bezüge zu einer spirituellen Welt. Immer wieder kontrastieren die brachial zusammengezimmerten Bretterwände mit religiös aufgeladenen Fotoausschnitten von gotischen Fenstern, Heiligenfiguren, Kirchen und Klöstern. In dem extrem querformatigen Relief ”While Saints are Sleeping” (1992) scheint die Kirche von fünf weiss-ockrigen Kissen regelrecht eingepackt zu werden. In einem anderen Objekt ”Ohne Titel” (1993) haben zwei schwarze, rotgeäderte Balken den klösterlichen Treppenaufgang fest im Griff. Mitunter stehen die in morbiden Gelb-, Grün- und Brauntönen übermalten Abbilder in krassem Gegensatz zu den übrigen Materialien. Oder sie verschmelzen optisch wie bei ”Distance and Identitiy I” (1993). Die durchgängig metallisch bläulich-silbrig-violette Farbgebung vereint hier Foto und Metall-Träger zu einer harmonischen, geometrischen Gesamtform. Obwohl die Materialbilder kultur- und religionskritsche Interpretationen nahelegen, standen schon damals formale Kriterien im Vordergrund. Bild gegen Abbild, Körper gegen Fläche, stumpf gegen glatt, lasierend gegen opak, konkret gegen illusionistisch. Die Ausschöpfung aller malerischen Möglichkeiten ist auch bei den jüngeren Arbeiten charakteristisch. In der Reduktion der Mittel hat sie sich sogar noch verstärkt.

Vergleichbar mit Rauschenbergs Entwicklung von den kruden, kraftstrotzenden ”Combine Paintings” hin zur subtilen Ästhetik der mit Säure und Siebdruck ”bemalten” Aluminiumplatten, verzichtet auch Helle Jetzig zunehmend auf ”Materialschlachten”, um sich auf die Untersuchung von Oberflächenphänomenen zu konzentrieren. Eine Serie von Industrie-Bildern entsteht Mitte der 90er Jahre, in denen sich vormalige Gegenüberstellungen unterschiedlicher Medien durch Übermalungen immer stärker zu einem Gesamteindruck zusammenziehen. In ”Duisburg O 1” (1995) scheint eine ganze Fabrikanlage in Flammen zu stehen. Das rot-orangene, ungegenständliche Farbenmeer der linken Tafel verläuft weich in das glutrot getönte rechte Industriefoto. Fünf hellblaue Rechtecke verklammern beide Bildhälften. In ”New York O 2” (1995) scheinen sich die violetten, duffen Wolken der rechten, aus reiner Malerei bestehenden Tafel zunehmend zu lichten und den Blick auf die Gebäude der gegenüberliegenden Seite freizugeben. Auch hier klammern geometrische Farbfelder beide Hälften und verweisen auf die Künstlichkeit des Produktes.

Thematisierte Helle Jetzig auch nach seinen New-York-Reisen 1995 und 1996 den zuvor begonnenen Dialog zwischen Fotografie und konkreter Malerei, so war der Weg zur totalen optischen Verschmelzung doch vorgegeben: Die formale Fülle New Yorks verlangte förmlich danach.

Wie ein Besessener verleibte er sich die Stadt mit Hilfe seiner Kamera ein. Mehr als tausend Aufnahmen umfasste die Ausbeute der wochenlangen Streifzüge durch Brooklyn und Manhatten. Zu Hause als neue Variante des klassischen Skizzenbuches archiviert, bot dieser Fundus Stoff für zahlreiche Bilder, die in den darauf folgenden fünf Jahren entstanden. ”Ich habe mich regelrecht an New York abgearbeitet”, sagt Jetzig, der reist, wann immer er kann: Arizona, New Mexico, San Francisco und Taiwan sind seine vorerst letzten Stationen. In Taipei haben Jetzig die ”banalen, kleinen Dinge des Alltags” fasziniert, die er mit dem analytischen Blick eines Filmemachers fokussiert. So gibt es neben den großformatigen ”übereinandergeschobenen” New-York-Bildern auch gleichsam auseinandergezoge Straßenszenen, in denen verschiedene Ausschnitte und verschiedene Vergrößerungen wie die Sequenzen eines Mini-Films nebeneinander gestellt sind. Reihen und Blöcke mit bis zu zwölf einzelnen Fotokästen entstehen auf diese Weise, die ihre Spannung aus der formalen Rhythmik zwischen ”Totale” und ”Close ups” beziehen.

Aber nicht die Orte allein bestimmen die Kompositionen. Es ist vielmehr das Zusammenspiel aller Faktoren, das die künstlerische Entwicklung in durchaus unterschiedliche Richtungen lenkt. Sowohl in den kleinteiligen ”Strings” (jeder Kasten mißt 33 mal 27 mal 5 Zentimeter) als auch in den mittleren Formaten der ”Stretched” (60 mal 60 Zentimeter) beansprucht die Fotografie ein wesentlich stärkeres Gewicht als in den vorangegangenen Werken. Doch als Weiterführung oder Ablösung der ”Verticals” will der Künstler sie nicht verstanden wissen. Er sieht sie vielmehr als neue Variante seiner immens komplexen Thematik, in der Änderungen ebenso selbstverständlich wie notwenig sind. Schon Rauschenberg stellte fest: ”Es macht mir keine Angst, mich zu verändern – tatsächlich macht mir genau das Gegenteil Angst. Wenn man sich nicht entwickelt, dann wird man verrotten.”