Heike Welzel
Helle Jetzig: >>Real Life<<
Vortrag zur Ausstellungseröffnung am 15.10.2015 / Galerie Villa Köppe
Helle Jetzig Werke sind künstlerische Ausnahmepositionen. Sie fallen auf, sie fesseln, sie faszinieren und machen klar, wie Kunst eigentlich sein kann: klug, kreativ, kritisch, kryptisch – klasse! Und sie lassen sich partout in kein Trendschema pressen, sie lassen sich in keiner der gängigen Gattungsschubladen verstauen, sondern zelebrieren eine einmalige, ihresgleichen suchende Synthese aus den Medien Fotografie und Malerei.
Die Fotografie formuliert dabei den künstlerischen Ausgangspunkt, die Basis seiner Arbeiten: meist sind es analoge Schwarzweiß-, in jüngerer Zeit häufig auch digitale Aufnahmen. Diese werden einem aufwändigen Werkprozess unterzogen, der von der Vergrößerung und Überblendung, über die Bearbeitung durch vielfältige Montage- und Collagearbeiten bis hin zu einem raffiniert komplexen Übermalungsprozedere reicht, das sich aus unzähligen Farbaufträgen (vor allem aus Tusche und Tinte), anschließenden Lackschichten und Schleifarbeiten sowie dem abschließenden Siebdruck zusammensetzt.
Das Bildmotiv ist die Stadt als Ballungszentrum von Architekturen und Kulturen: New York, London, Istanbul. Gezeigt werden Fragmente von bekannten prägnanten Silhouetten, unbekannten unscheinbaren Nischen, uneindeutigen Straßenschluchten, alles immer wieder durchsetzt von Flüssen, Brücken, Industrie, Reklametafeln, Fahrzeugen, dazwischen hin und wieder auch ein paar Menschen. Entstanden ist keine Stadtdoku, keine a priori oder dezidiert absichtsvoll ausgewählte Vedute für die Ansichtskarte, sondern flüchtige Momentaufnahmen, Snapshots – „en passant“ – im Vorübergehen, im Vorbeifahren mit der Kamera gemacht. Dies ist der Stoff für seine Malerei, dies sind die „Bilder“ für seine Bilder, wobei offenbleibt – und auch getrost offenbleiben kann -, ob Helle Jetzig bei seinen Kameraaufnahmen als Fotograf agiert oder doch bereits als Maler, das künstlerische Endprodukt vor Augen habend, durch das Objektiv schaut.
Für Helle Jetzig ist der Topos Stadt nicht wegen seiner inhaltlichen Bedeutungsqualitäten interessant. Vielleicht im weitesten Sinne mit Künstlern wie Paul Cézanne vergleichbar, dessen „Stilleben mit Äpfeln“ durch bildnerische Herausforderungen und weniger durch kulinarische oder symbolische Bedeutungsgehalte motiviert worden sind, so liegt auch bei ihm der eigentliche Fokus auf der Reflexion von künstlerischen, also formalen und ästhetischen Aspekten. Gleichwohl sind seine Werke aufgrund ihrer Konzeption, Atmosphäre und Farbigkeit durchaus auch für eine inhaltliche Deutungsreise ausgesprochen verlockend.
Durch die Bearbeitung der fotografischen Vorlage mit den Mitteln der Malerei vollzieht Helle Jetzig den Schritt von der illusionären zur autonomen Bildwelt. Seine Stadtaufnahmen sind keine reinen Tatsachen mehr, sondern mutieren zu einem kryptisch komplexen Konstrukt aus Übermalungen, Überlappungen, Verschachtelungen, Brüchen und Dekonstruktionen. Entstanden ist ein dynamisch pulsierendes Capriccio aus merkwürdig verschobenen, verzerrten, surreal anmutenden alogischen Dimensionen, Proportionen, Perspektiven, Fluchtpunkten und Sichtachsen.
Diese ingeniösen Bildarchitekturen, diese den physikalischen Gesetzen widersprechenden und nicht zu realisierenden Invenzioni basieren auf einer Konzeption von Ambivalenzen: Linie versus Farbfläche, Fläche versus Tiefe, Undurchlässigkeit versus Transparenz, gestische Intuition versus Konstruktion, Figuration versus Abstraktion. Dazu ein hochglänzendes, zugleich jedoch merkwürdig gedämpftes, wie durch einen Farbfilter erzieltes Kolorit aus viel rostigem Rot, kühlem Grün und Gelb, das von einem seltsamen Leuchten, einer effektvollen, fast pyrotechnischen Beleuchtung durchstrahlt wird. Aus alledem ergibt sich jene für Helle Jetzigs Werke so eigentümliche Magie und irritierende Ambiguität.
Die Wirklichkeit – das „Real Life“ – erscheint plötzlich anders und offenbart unendlich neue, unbekannte, staunenswerte Blickwinkel und Perspektiven. Aus Bildern der Wirklichkeit kreiert Helle Jetzig nur mit den Mitteln der Malerei und ohne absichtsvolles, plakatives Getue oder oberflächliche Effekthascherei ein vielschichtiges und vielgesichtiges Faszinosum. Es darf entdeckt, hinterfragt und vielleicht sogar unser bisheriges Weltbild ins Wanken bringen.
© Dr. Heike Welzel-Philipp
Oktober 2015