Hans-Joachim Müller

Trattoria al ponte

Zu den neuen Städtebildern von Helle Jetzig. Hans-Joachim Müller

Es klappt nicht immer und funktioniert nicht überall. In manchen Städten ist nichts zu holen. Dann kehrt der Fotograf ohne Beute heim. Woran es liegen könnte? Helle Jetzig weiß es nicht, vielleicht noch nicht. Nicht alles löst sich auf ohne Rest. Warum läuft der eine durch eine Stadt und sieht, was der andere nicht sieht? Warum prallt wieder ein anderer an den Stadtkulissen ab und versteht partout das Stück nicht, das auf der Stadtbühne gegeben wird? Helle Jetzigs Städtebilder verraten nicht alles, was man gerne wissen möchte. Man kann den Künstler auch nicht einladen, wie man den greisen Kokoschka einladen konnte. Der Maler hat sich bekanntlich nicht lange geziert, hat sich seinen Stadtplatz ausgesucht und mit den lichten Farben des Alters ein London- und ein Bremen-, ein Hamburg- und ein Stuttgart-, ein Freiburg- und ein Berlin-Bild gemalt. Dass er einmal unverrichteter Dinge wieder heimgefahren wäre, ist nicht überliefert. Helle Jetzig weiß es nie vorweg, wenn er sich aufmacht, was er heimbringt, wie ergiebig es sein wird, was er sieht, was er sehen will.

Amsterdam und Venedig waren gute Städte, nahmen den Fotografen freundlich auf. Gleich herrschte inniges Seheinverständnis. Obschon Helle Jetzig gar nicht mit besonderen Erwartungen oder gehobenen Ansprüchen kommt. Er hat sich in Venedig wie einer der vielen Touristen aufgeführt, hat sich ein Taxiboot gemietet, sich dahin und dorthin fahren lassen und keineswegs nur an verwunschene Plätze, wohin sich keine Reisegruppe verirren würde. Er hat im Fahren fotografiert, wie andere in der Gondel sitzen und zum obligatorischen „Sole mio“ die Handykamera klicken lassen. Er hat sich kaum Zeit genommen, den Fotoapparat wie eine Waffe in Anschlag zu bringen, lange einzustellen, die Einstellung immer wieder zu korrigieren, auf das richtige Licht, auf die wahrscheinliche Menschenfülle oder unwahrscheinliche Menschenleere zu warten, den unwiederholbaren Bildaugenblick anzupeilen. Um Bilder Stellen, um Ponderieren, Akzentuieren, Austarieren ist es dem Fotografen offensichtlich nicht zu tun. Das große Gerät braucht er so wenig wie die Crew. Er kommt ohne Assistenten aus, ohne Kabelträger, Beleuchter, Produzenten. Wo Helle Jetzig fotografiert, ist nicht Set. Er benutzt eine einfache analoge Spiegelreflexkamera, gedacht und gebaut für den streifenden, schweifenden Blick des Flaneurs. Fotografieren ist bei Helle Jetzig Sammeln – unter Vermeidung aller Systematik.

Man könnte nicht einmal sagen, was ihn beim Streifen und Schweifen interessiert. Was zeichnet die Trattoria an der Calle Larga hinter dem rundhöckrigen Ponte Megio aus? Was hat sie, was andere Trattorien nicht haben? Das Hauseck lässt sich nicht spektakulärer an, nicht venezianischer, schon gar nicht „malerischer“ als einer der tausend Winkel anderswo in der Stadt. Das Restaurant verspricht Genuss ohne Reue, aber zur gastronomischen Erfüllung reicht die Küchenanstrengung kaum. Warum also nimmt der Künstler, der Fotograf, der Maler Helle Jetzig die barocke Hausfassade vom anderen Ufer aus auf und stellt sich vor die Brücke, wie sich unsereiner aufgestellt und die Kamera nicht anders gehalten hätte?

Vielleicht sieht Helle Jetzig ja doch mehr oder sieht etwas, was wir nicht einmal sehen würden, wenn wir ihm jede Bewegung haarklein nachmachten. Vielleicht sieht er schon beim Fotografieren, was die malerische Bildbearbeitung aus der unscheinbaren Aufnahme bald machen wird. Vielleicht bedarf es gerade der unscheinbaren Aufnahme, um die malerischen Möglichkeiten recht entfalten zu können. Die Arbeit mit der handlichen Kamera ist ja nur das eine. Wenn der Künstler zuhause im Atelier seine Bildwahl getroffen und die Dia-kleinen Vorlagen im eigenen Fotolabor vergrössert und dann die monumentalen Fotopapiere auf kastenartige Bildträger aufgezogen hat, tritt der Maler in Aktion. Er hat sich eine ganz eigene Technik erarbeitet, mit der er aus der optischen Mischung durchsichtig aufgetragener Grundfarben die feinsten koloristischen Nuancen destilliert.

Man könnte vor der übermalten Trattoria-Fotografie nicht sagen, ob Tag oder Nacht ist, Sommer oder Winter. Die gelbe Fläche hinter der Laterne über dem Restaurantschild ist wie starkes, schwefeliges Leuchten. Woher stammt es? Von der Lichtampel, wie man meinen könnte, sicherlich nicht. Und ein Scheinwerfer ist nicht zu sehen, nicht einmal ein Projektionsstrahl, der die gelbe Fläche plausibel machte. Von innen kann das Licht nicht kommen. Und aus welchem Inneren kommt das violette Glimmen im Kanal? Es ist, als waberten Röntgenstrahlen im Wasser, kämen hoch aus dem schlammigen Grund, vermischten sich mit den rosafarbenen Schlieren, die die Brückentreppe hochkriechen, um sich in starkgelben Katarakten aufs diesseitige Ufer zu ergießen. Ein seltsames Farbenspiel, bengalisch, unheimlich, nicht ganz von dieser Welt, als sei ein künstlicher Vorhang vor Venedig gespannt, ein Mehrfarben-Filter, der einen die vertraute Stadtansicht fremd sehen lässt. Ein Laborfunkeln, als seien die Dinge in merkwürdiger Reaktion begriffen.

Musikalisch gesprochen könnte man die gedämpften Klänge einer chromatischen Tonleiter zuordnen. Tatsächlich bietet sich Farbe auf Helle Jetzigs Bildern nie in plakativer Direktheit an. Vergeblich die Anstrengung, sie umrechnen zu wollen in physikalisch exakte Werte. Diese vagen Rot- und Rosttöne, die die „Trattoria“ wie ein Dunkelkammerlicht umspielen, sie scheinen keiner eindeutigen Wellenlänge zu entsprechen. Es ist ein Pulsen und Flackern wie bei den Kohlenfadenbirnen, die es nur noch im Museum gibt. Pulsierende, flackernde Rot- und Rosttöne, die gerade nicht den lichtphysikalischen Tatbestand von Rot und Rost erfüllen, die eher zu Rot und Rost tendieren, die das Auge dazu verleiten, an Rot und Rost zu denken.

Das ist eine spannende, eine anregende Erfahrung, die man vor diesen Bildern machen kann, wie sie verführen mit ihren herkunftslosen, ihren ungeklärten Farbstimmungen und sich sperren gegen die zupackende Beschreibung und präzise Definition. Man kennt doch diese „Trattoria“, meint sie zu kennen, saß auch mal draußen an den kleinen Bistrotischen und hat die Touristen beobachtet, aber so wie auf dem Bild der Trattoria war es nicht. Das Erinnerungsbild lässt sich nicht wirklich abgleichen mit den Informationen, die das gemalte Fotobild liefert. Irritierend ist das und faszinierend in einem. Zumal mit dem atmosphärischen Schleier, der sich über den vertrauten Prospekt gelegt hat, Irritation und Faszination noch lange nicht an ihrem Ende sind. Im gebrochenen Farblicht bricht auf eigentümliche Weise auch die gewohnte Architektur. Die Raumtiefe, die das Sujet vom Blickpunkt der Kamera aus haben müsste, scheint wie aufgelöst. Die Malerei lässt das Bild flach aussehen, zoomt weiter entfernte Teile heran und markiert Abstände zum Naheliegenden. Hinten und vorne verweben zum perspektivelosen Komplex. Je länger man sich auf das Bild einlässt, desto verwirrender, komplizierter auch erscheint seine multifokale Anlage. Es ist wie Inversion auf der ganzen Linie.

Ein Effekt, den der Künstler in früheren Bilderserien durch eine bildhandwerkliche Montagetechnik erreicht hat, auf die er bei den „Amsterdam“- und „Venedig“-Bildern weitgehend verzichtet. Ursprünglich sind durch Überblenden, Ineinanderschieben und Verfugung der verschiedenen fotografischen Vorlagen verschachtelte Räume entstanden, deren Capriccio ähnliche Wirkung in der Übermalung noch verstärkt wurde. Diese Übermalungen machten die Fotobilder vollends undurchdringlich, unbegehbar. Aber undurchdringlich, unbegehbar war schon die fotografische Grundierung. So ist sie in der Dunkelkammer konstruiert worden. Die Trattoria, die heute das Entwickler- und Fixierbad verlässt, weist kaum Bearbeitungsspuren auf. Erst die Malerei, erst der Einsatz der Farben schafft die Brüche, Verschränkungen und Dekonstruktionen. Und es mutet nun noch geheimnisvoller an, wie der Maler ganz ohne Manipulation des fotografischen Motivs die euklidische Wohlordnung durcheinander bringt und sein Publikum mit auf eine Blickreise nimmt, wo keine verlässlichen Dimensionen und fest gefügte Proportionen versprochen sind. Was, wenn die „Trattoria al Ponte“ nur ein Nachbau wäre, eine leicht verschiebbare Bühnenarchitektur? Eine Projektion, eine Scheme ohne wirkliches Fundament in der sichtbaren Welt? Alles scheint möglich. Und auch damit sollte man rechnen, dass man bei der nächsten Venedig-Reise wieder vor der Ponte Megio steht und hinüber zur Trattoria an der Ecke der Calle Larga blickt, und alles noch ist so, wie es immer gewesen ist. Aber das magisch flackernde Bild, das kann man nicht mehr vergessen, und es wird sich bei jeder Venedig-Reise wieder mit Nachdruck vor die banale Wirklichkeit schieben.

Es ist interessant, wie Helle Jetzig den neuen Werkschritt begründet. Vor ein paar Jahren hatte er noch in klassischer Labortechnik durch Abdecken, wedelnde Bewegungen und in langen Belichtungsprozessen die feine Grauabstufungen gewonnen, die die basalen Konturen der Architekturformen wie aufgeweicht aussehen ließen. Heute fotografiert er in einer Weise, die die Bildverfremdung in der Dunkelkammer weitgehend überflüssig macht. Er sieht gleichsam durch die Kamera, was sich für seine Art der Stadtfotografie besonders gut eignet. Er sieht nun die Brüche, Verschränkungen und Dekonstruktionen in der unmittelbar erfahrenen Realität. Zumindest sieht er die virtuellen Brüche, Verschränkungen und Dekonstruktionen, die Möglichkeiten, die das Motiv dem Maler bietet. Der Fotograf fotografiert gleichsam als Maler.

Fotografierend legt Helle Jetzig die Bausteine für die enträumlichten Räume, auf die er es abgesehen hat. Noch immer ist es erst die Farbe, die die Proportionen verkürzt und weitet, die die Einschnitte vertieft und die Prospekte öffnet, die hier etwas in den Vordergrund rückt und dort etwas zurückdrängt. Noch immer ist es die Malerei, die aus den Kulissenteilen Bühnenbilder schichtet und über die Szenen ihren leise wehenden Anmutungsschleier legt. Aber schon der Fotograf ist heute an diesen Inszenierungen beteiligt. Er sammelt nicht mehr nur Material, das sich für seine malerischen Inszenierungen verwerten und verwandeln lässt. Er hat es nun vom ersten Sehschritt auf Inszenierung und Verwandlung abgesehen. Er steht vor der Trattoria und weiß vielleicht noch nicht, was für seltsame Violett-Schlieren seine malerischen Bühnenscheinwerfer einmal in den Kanal zaubern werden, aber soviel weiß er eben doch, dass sich das Fotobild wunderbar für den Zauber eignen wird, auf den sich der Maler versteht.

Ihre Eigenständigkeit verrät diese Malerei vollends, wenn man versucht, das Werk vom Hintergrund zeitgenössischer Bildpraxis abzulösen. Die schier grenzenlosen Möglichkeiten der Speicherung, Verfügbarkeit und Manipulierbarkeit digitaler Bilder hat der Malerei ja noch einmal machtvoll zurückgegeben, was sie im „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ zu verlieren drohte. Mehr denn je eignen dem gemalten Bild Würde, Wertschätzung und Ansehen, was ihren auratischen Sonderstatus nur bekräftigt hat. Und noch immer gründet der Kult der Malerei auf den vermeintlichen Widerstandskräften, mit denen sich das alte Medium gegen seine umständelose Speicherung, Verfügbarkeit und Manipulierbarkeit behauptet hat. Ein Mythos, der nicht zuletzt von der Malerei selber mit Nachdruck attackiert wird, indem sie immer häufiger die technischen Bildbearbeitungstools zur Bildvorbereitung nutzt. Auch Helle Jetzigs Bilder könnten am Bildschirm entstanden sein. Auf den ersten Blick erinnert manches an die Effekte, die sich mit dem „Photoshop“ oder anderen avancierten Anwendungen erzielen lassen. Und es gehört zum subtilen Programm dieser Malerei, dass sie durchaus mit den Suggestionen des technisch generierten Bildes spielt und den Betrachter ein Stück weit auf die falsche Fährte lockt, um ihn nur umso entschiedener zurückzuholen und die Gemachtheit der Bilder als Ergebnis malerischer, nicht algorithmischer Prozesse zu verraten. Weder Malerei noch Fotografie beanspruchen in diesem Werk den Status des Ausnahmehandelns, das das kunst- und bildgeschichtliche Klischee bis heute bestimmt. Und weder der Maler noch der Fotograf Helle Jetzig markieren solitäre Positionen, von denen aus sie Welt im Bild zu erschließen suchten.

Das unterscheidet diese reflektierte Bildarbeit auch von populären Werken, wie sie zum Beispiel aus der Düsseldorfer Becher-Klasse hervorgegangen sind. Das Düsseldorfer Label ist Standpunkt-Fotografie, die noch einmal auf die klassische Erkenntnismöglichkeit setzt, Welt vom Observatorium des selbstgewissen Subjekts aus in den Blick zu nehmen. Nie kreisen die Fotokünstler um ihre Gegenstände, um sie von allen möglichen Seiten aus zu beschreiben und aus der Summe der Beschreibungen so etwas wie Gegenstandswahrheit zu gewinnen. Ihre Kamera ist statisch, fixiert am Ort, und immer ist dieser Ort der Welt in einer Weise gegenüber, dass der Weltausschnitt zusammen mit dem Weltausschneider ins Bild gerät. Helle Jetzig vermeidet das tradierte Erkenntnis-Setting. Er steht nicht still mit seiner Kamera, spreizt nicht die Beine des Stativs aus, um mit dem Fernauslöser in der Hand gleich wieder ein Stück vom technischen Sehort zurückzutreten und die Kamera ihr Werk gleichsam allein vollbringen zu lassen. Er sucht von allen möglichen Seiten aus visuellen Zugang, verharrt nicht vor dem Motiv, um seine Erkenntnisergriffenheit zu demonstrieren. Es gibt bei ihm überhaupt nicht die Momente der Erhabenheit. Die Trattoria ist kein Denkmal, keine Bildfeier eines kunsthistorisch bedeutsamen Platzes, kein festlicher Bildauftritt des venezianischen Stadtbarocks. Es ist im Gegenteil ein Ort der Vagheit, ein Ort, wie er nicht im Stadtführer vorkommt, ein Ort changierend zwischen Stadtrealität und Bildrealität. Solche Übergänge mag Helle Jetzig sehr. Nie ist Fotografieren beim ihm nur eine Weise des Festhaltens, Dokumentierens oder Archivierens, nie bloß Augenblicksbewahrung. Immer geht es auch um verwunderte Umschau, immer ist in der verwinkelten Anlagen der Bilder ein heißer Kern des Staunens verborgen, eine Neugier an der Unwahrscheinlichkeit, die alle Erkenntnissicherheit augenfällig unterläuft.

Als Kameramann mit Gerätekoffer und schwarzem Tuch über dem Kopf, so sollte man sich den Bildersucher und Bildermacher Helle Jetzig mithin nicht vorstellen. Wie er überhaupt für die Orthodoxien seines Berufsstands wenig anfällig scheint, sich weder zu den dogmatischen Anhängern der analogen noch zu den Pionieren der digitalen Fotografie rechnet. Er nützt die Werkzeuge, wie er sie braucht. Und das Eigentliche, die Geburt nämlich des Bildes aus Erlebnis und Phantasie, Konstruktion und Imagination, Vorlage und Vision geschieht dann doch im Atelier an den Arbeitsplätzen zwischen Dunkelkammer und Lichtraum. Und wer die paar Schritte vom Vergrößerungsapparat zum Maltisch mitgeht und sich an die eigentümlichen Licht- und Raumbedingungen gewöhnt hat, an die schillernden Travestien, in denen aus technisch hergestellten gemalte Bilder werden und in den gemalten die technisch generierten glimmen, der ist zugleich Augenzeuge, wie aus neugieriger Weltbegegnung überwältigender Schaustoff wird.